Also, das Jahr 2019 läuft und ich wollte mich ja jedes Jahr selbst herausfordern. Was also machen? Es soll etwas sein, dass mich körperlich herausfordert. Mein Körper soll merken, dass er funktionieren muss und nicht einfach aufgeben darf.
Schnell einmal kam die Idee auf dem West Highland Way zu wandern. Von Milngavie in der Nähe von Glasgow hoch zum Tor der Highlands in Fort William. 154 Kilometer wandern in einer wunderschönen Natur und campen. Allein, nur ich und die Natur. Ich war sehr schnell verliebt in diese Idee. Ich kaufte Bücher und informierte mich – das Datum war auch schnell klar. Es sollte im Herbst 2019 stattfinden. Ziemlich genau ein Jahr nach dem aufkommen der ersten Symptome. Ich beschloss für mich selbst auch, dass ich mich von der Krankheit so lange nicht runter ziehen lasse bis ich auf dem West Highland Way Zeit habe ungestört mich mit mir, meiner Krankheit und meinem Körper auseinander zu setzen. Denn immer, wenn das Thema meiner Krankheit bei einem Gespräch zum ersten Mal aufkam, war es immer die gleiche Reaktion:
«Ach scheisse! Das tut mir so leid für dich. Wie geht’s dir dabei?»
Naja, wie gings mir? Ich fühlte mich ja gesund! Ein wenig Gefühlsverlust in der linken Hand, dass konnte ich verkraften. Immerhin keine Schmerzen – denn das war ein Thema, dass mich zuvor jahrelang begleitet hat. Eigentlich seit dem Kreuzbandriss im Jahr 2008 hatte ich durchgehend immer schmerzen bis ca. zur Fitness-Challenge 2017. Da habe ich durch gezieltes Training und reduzieren des Gewichts (leider viel zu wenig und zu wenig nachhaltig) meine Knie-Schmerzen überwunden. Also ja, es geht mir gut! Warum waren alle Menschen um mich herum betroffener von diesen zwei Worten «Multiple Sklerose» als ich? Wohl ein Verdrängungs-Prozess und ein Selbstschutz. Aber damit sollte spätestens im Herbst Schluss sein. Ich werde mich auf der 10-tagigen Reise damit auseinandersetzen. Ein kleines Büchlein mitnehmen und meine Gedanken niederschreiben, meine Sorgen und Ängste über meine Zukunft – jeden Abend ein paar Zeilen niederschreiben. Und zum Schluss, wenn ich in Fort William ankomme, werde ich das Buch verbrennen. Sounds like plan!
Aber Oktober war noch so weit weg. Ich wollte bereits zuvor etwas machen. Etwas auf das ich konkret hinarbeiten konnte. Auf 10 Tage wandern bereite ich mich nicht so intensiv vor wie vor seriösen sportlichen Herausforderungen, doch genau das wollte ich. Ich überlegte was ich machen könnte und eigentlich war es so offensichtlich. Meine Frau wollte an einem lokalen Charity-Event teilnehmen. An dem war das Ziel Spenden zu sammeln für eine Stiftung die Krebskranke aus der Region unterstützt. Am Event-Tag fuhr man mit dem Fahrrad eine Strecke von 15.3 km und 1240 hm hoch. Manche verrückte fuhren die Strecke mehrmals, andere fuhren sie einmal, wiederum andere liefen die Strecke hoch. Das sollte es also sein – Kampf dem Krebs! Der Scheiss-Parasit hat in meinem Umfeld ohnehin bereits genug Trauer und Verlust verursacht und war ja leider auch zu dem Zeitpunkt wieder aktueller denn je. Ich meldete mich also auch an dem Event an. Zum Schluss waren wir eine Gruppe von 5 Personen. Meine Frau, ihre Schwester, mein Cousin und der Cousin meiner Frau – unser Profi-Radler. Wir alle kannten im nächsten Umfeld Personen, die gegen den Krebs kämpften oder immer noch kämpfen. Das sollte doch ein schöner Event werden. Wir bereiteten uns einzeln darauf vor. Meine Frau und ich zusammen, manchmal begleitet von meinem Cousin. Ich war froh habe ich mir nach meinem Fussbruch ein E-MTB gekauft. Mein Gewicht ohne Unterstützung da hoch zu schleppen – ein Ding der Unmöglichkeit für mich.
Und dann kam der Tag des Events. Morgens um 5.00 Uhr war der Startschuss und man fuhr im Dunkel der Nacht los. Es war eindrücklich, die ganzen Menschen, die sich aus purer Solidarität gegen diese Krankheit zusammengefunden haben und hier hoch strampeln. Eine erste Kurve war mit dutzenden kleinen Laternen mit Kerzen geschmückt die wunderschön leuchteten. Der Weg war mit diesen Laternen gekennzeichnet. Am Strassenrand standen bereits um 5.00 Uhr morgens Menschen die einem zugejubelt haben – unbeschreiblich das Gefühl. Mein persönliches Highlight war, als man plötzlich die Dudelsack Klänge der «Moosalp Highlands» hörte. Ich mag diese Musik. Zusammen mit der Morgendämmerung, die einsetzte hatte das etwas Magisches! Wir liessen uns Zeit – denn ich hatte mit meiner Familie eine Zeit vereinbart, zu welcher wir oben sein sollten. Auch meine Tante würde dabei sein, die zu dem Zeitpunkt gegen den Krebs kämpfte. Es sollte eine Überraschung werden für meinen Cousin, der wusste nämlich von nichts. Die ganze Stimmung an dem Tag war unbeschreiblich und es fehlen einem die Worte um das erlebte zu beschreiben. Zumindest geht es mir so. Ich hatte meine Go Pro dabei und im Anschluss einen kleinen Video zusammengestellt, als Erinnerung für mich und meine Familie.
Oben angekommen, wurden wir von unseren Familien in Empfang genommen und wir genossen den schönen Tag und die Endorphine, die durch unseren Körper strömten.
Diese Challenge war also geschafft, nun war es Zeit meine Wanderung in die Highlands zu planen. Die Vorfreude war unbeschreiblich – selten hatte ich Fernweh so intensiv erlebt. Ich wollte weg, ich wollte die Einsamkeit fühlen und mit meinen Gedanken allein sein. Versteht mich nicht falsch – es war nicht so, dass ich weg von meinem Umfeld wollte. Aber bei der Verarbeitung und dem mit mir ins Reine kommen, konnte mir niemand helfen. Das musste ich selbst erledigen. Alles war geplant, die Flüge und das Hotel am ersten und letzten Abend gebucht. Material eingekauft und Routenplanung vorgenommen. X Vlogs auf Youtube über den WHW geschaut, so dass ich beinahe dachte, keine Karte mehr zu brauchen. Ich kannte den Weg.
Doch leider spielte meine Gesundheit nicht mit. Eine Lungenentzündung verhinderte die Abreise. Fuck… aber was solls – fliege ich halt im Mai 2020 (was daraus wurde kann sich wohl jeder Leser hier denken).
Zum Glück hatte ich mir bereits ein neues Projekt ins Auge gefasst. Etwas, dass jetzt wirklich nicht meinem Naturell entsprach. Ich wollte im Juli 2020 von Zermatt hoch auf den Riffelberg laufen. Den Zermatt Halbmarathon.
21.0975 Kilometer – knapp 1000 Höhenmeter
Wer mich kennt, weiss dass mir laufen keinen Spass macht! Joggen ist langweilig, da bist du allein mit deinen Gedanken. Und meine Gedanken klingen beim Joggen spätestens nach 6-7 Km so:
Spinnst du? Warum machst du das? Jetzt in einem Whirlpool sitzen wäre auch nice!
Und so weiter… Nicht lustig mit mir selbst darüber zu diskutieren weitere 14-15 km zu laufen! Und dann diese Höhenmeter. Welcher Mensch meldet sich mit meinem Gewicht für so eine Scheisse an und hofft dabei Gewicht zu verlieren? Niemand! Man nimmt doch zuerst ab und wagt sich dann an so eine Herkules-Aufgabe.
Nun ja, reklamieren bringt nichts. Ich habe A gesagt, ich musste also auch B sagen. Die Trainings waren von meiner Krankenkasse organisiert. Sodalis hatte das bereits in den vorangegangen Jahren so durchgeführt und Kunden die Möglichkeit von strukturierten Trainingsplänen und monatlichen Gruppentrainings angeboten. Zusammen mit meiner Frau habe ich mich angemeldet und die Vorbereitung in die Hand genommen. Viele denen ich davon erzählt habe, haben Witze darüber gemacht, dass man das in meiner Gewichtsklasse sowieso nicht schaffe. Well, yes! Ich bin mit euch einverstanden und genau darum wollte ich das machen.
Wie wir ja wissen, hatte Corona mit dem Jahr 2020 andere Pläne und der Halbmarathon fiel aus. Still und heimlich war ich erleichtert. Ich kam nochmals drum rum, ohne selbst einen Rückzieher machen zu müssen. Die Anmeldung blieb jedoch für dieses Jahr gültig. Ich kam also doch nicht drum rum. Die Motivation war jedoch nicht mehr so gross. Ich liess es schlittern und zum ersten Mal bekam ich es mit einem neuen Symptom zu tun - Fatigue. Im Herbst 2020 war ich oft extrem müde. Komplette Antriebslosigkeit und Lethargie hielt in meinem Alltag Einzug. Physisch wie psychisch war ich müde und ausgelaugt. Gegen die physische Müdigkeit wurde mir von meinen Ärzten empfohlen mindestens 2, besser 3-mal in der Woche Ausdauersport zu betreiben. Hmmm… also wohl doch auf den Halbmarathon vorbereiten. Aber ich musste wieder bei 0 Anfangen. Anfang Februar machte mein Trauzeuge den Vorschlag, uns mindestens zweimal in der Woche zu treffen, um uns fit für unsere Hochzeitsanzüge zu machen. Sonntags in aller früh trafen wir uns ein erstes Mal. Bei Minus-Temperaturen. Hätte unser alter Handballtrainer uns gesehen, er hätte wohl seinen Augen nicht getraut. So war es also tatsächlich so, dass wir uns ab Februar regelmässig zum Laufen getroffen haben. Anfangs mit mehr Spazier-Anteil denn wirklichem laufen. Aber kontinuierlich steigerten wir das Pensum. Dann der erste 5KM Lauf und das Pensum weiter hochgefahren. Erste Läufe wieder mit ein paar Höhenmetern und direkt wusste ich wieder, Höhenmeter und ich – das wird keine Lovestory!
Letzte Woche wagte ich mich an einen Probelauf auf der Originalstrecke. Es reichte nicht bis ins Ziel. Nach ca. 15 oder 16km und mit knapp 850 HM in den Beinen musste ich aufgeben. Nun stehe ich 6 Tage vor dem Renntag. Die Zweifel sind gross, schaffe ich es ins Ziel, wie sieht es mit der Müdigkeit aus, macht der Körper mit? Ich zähle auf das Adrenalin, dass an solchen Rennen ausgestossen wird und das Publikum, welches dich motiviert. Anders geht es nicht – aber es muss… ich will da hoch. Ich will es mir und allen anderen beweisen, dass ich es kann und ich will meiner Krankheit zeigen, wer hier über meinen Körper entscheidet. Und zwar ich!
Wünscht mir Glück!
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